Wahlumfragen sind Futter für getriebene Politiker. Gehen Wahlen auch ohne Wahlumfragen? Hätten wir dann mehr Zeit für langfristige Visionen und gemeinschaftliche Strategien? Und schielen wir als Wähler vor unserem Kreuzchen nicht auch auf die Umfragen?
Berlin muss am 12. Februar eine Wahl wiederholen. Zum ersten Mal seit dem CDU Bankenskandal vor über 20 Jahren steht die CDU in den Umfragen vorne. Dank der CDU musste Berlin 21,6 Milliarden abschirmen. Die Stadt kränkelt immernoch daran, hat landeseigene Immobilien verscherbelt und steht ohne eigene Landesbank oder Sparkasse da. Der CDU Spitzenkandidat, Kai Wegener, ist ein Spandauer Versicherungskaufmann ohne internationale oder nationale Erfahrung.
Womöglich ist es auch ein Abbild der veränderten Einwohnerstruktur in der Stadt. Zugezogene kommen seltener um sich innerlich zu verwirklichen oder vor der Enge der schwäbischen Kehrwoche zu flüchten. Sie kommen wegen der Arbeit, was gut ist, viele erschaffen neue Arbeit, was super ist.
Amazon frisst sich in den Himmel an der Warschauerstrasse. Der Mietendeckel ist verschwunden. Malls haben wir im Überfluß. Bei der Akkumulation von Kapital und dem leistungslosen Einkommen (mit Geld spielen ohne dafür produktiv zu arbeiten) spricht die CDU und FDP eher äußerlich fokussierte, auf der Suche nach Status gefangenen Wählern mit stärkerem Eigeninteresse an.
Ich habe nach meinem Studium ein paar Jahre in San Francisco gelebt. Bin einfach losgefahren von der Ostküste, mit Blumen in den Haaren, habe Software getestet und als Journalist gearbeitet. Es war eine schöne Zeit, aber die Hippies und ihr Spirit sind schon längst verschwunden. Das was die Stadt überhaupt attraktiv gemacht hat ist Geschichte. San Francisco ist eine ruhige, langweilige, kulturarme Reicheninsel mit viel zu vielen Lieferdiensten geworden.
Das Positive an Berlin ist, dass die Stadt noch vielfältige Subkultur inne hat. Sie ist die undeutscheste aller Bundesstädte. Deswegen kamen und kommen soviele Menschen freiwillig. Sie hat die höchste Dichte an Ambiguitätstoleranz, ist ein fruchtiger Nährboden für das Neue. Viele arbeiten sich an ihr ab. Die Gedanken sind frei. Sie ist widersprüchlich und glänzt mit kreativem Chaos, wie die Natur eben. Sie wächst, in jeder Hinsicht.
San Francisco, London oder New York sind mahnende Inseldenkmäler und weisen darauf hin, dass es schnell vorbei sein kann mit der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt. Sie haben als spirituelle Oasen eines lebenswerten Ortes ausgedient, fast alles ist einverleibt, alles ist erwerbbar. Super busy und gleichzeitig einsam sein ist ein Lebensmantra. Widersprüche sind verschwunden, äußere Hygiene lässt sich in den Gesichtern und Straßen der Stadt ablesen.
Wenn ihr Berliner seid, wählt, kämpft und engagiert euch außerhalb den eigenen vier Wänden für eine lebenswerte, bezahlbare, offene, soziale und subkulturreiche Stadt. Atmet die Berliner Luft. Der besondere Duft lässt sich nicht erwerben, nur immer wieder neu erfinden, erleben und erhalten.
Ist es mit dem Traum von Berlin nicht längst zu spät? Ich bin in letzter Zeit öfter da, weil ich da jetzt eine Freundin habe. Ausgehen ist richtig teuer geworden, ein Döner ist richtig teuer geworden, die hippen Orte sind unendlich weit weg vom beschaulichen Tempeldorf. An eine gemeinsame Wohnung ist gerade überhaupt nicht zu denken. Sicher, ich bin immer wieder gerne da. Es ist entspannter, offener, bunter als etwa hier das Rheinland. Aber was Berlin zu dem gemacht hat, was es heute ist, war doch eben auch, dass jeder kommen konnte, unabhängig vom Geldbeutel. Das ist jetzt nicht mehr möglich und wird wohl auch so schnell nicht mehr möglich. Stirbt damit nicht auch das coole, junge, künstlerische, alternative Berlin?
Der Traum dass jeder hier wohnen kann ist mehr vom Geldbeutel abhängig, das stimmt. Wohnen ist zu teuer geworden. Die einzige Partei, die glaubwürdig versucht hat eine bessere Lösung zu finden war Die Linke, vor allem bei der Unterstützung des Volksentscheids Deutsche Wohnen & Co. In Städten wie Graz oder Wien gibt es Lösungen, die das Grundrecht auf Wohnen für mehr Menschen ermöglicht.
Dennoch gibt es eine Subkultur, die in anderen Weltstädten schon längst verschwunden ist, aber sie ist schon lange nicht mehr in Mitte oder Prenzlauer Berg. Es werden nur mehr Büros und Malls gebaut. Dieser alles ist möglich Spirit der 1920er Jahre oder der Nachwendezeit war besonders. Ich hoffe, dass weiterhin Neuberliner kommen, die die Berliner Luft damit bereichern.