Ich hatte einen Geschichtslehrer in New York, das muss in der 9. Klasse gewesen sein, der uns im Unterricht empfahl eine Leidenschaft zu entdecken und daraus eine Berufung zu machen. Wir sollten uns keine Illusionen machen, der Weg hat kein Ende und die Berufung schickt keine Rechnung.
Durch die Verzweckung des Alltags und einem sicherheitsstiftenden Produktivitätszwang verliert sich unser inneres Kind weniger im Moment des Seins, es bleibt weniger Zeit für die Suche nach dem inneren Kern, der heiligen Quelle der Authentizität.
Natürlich bietet sich ein 2-tägiger Workshop für die Suche nach der Quelle an. Ich sehe Listicle-Artikel, die mit „11 sofort umsetzbare Tipps um mit einem Klick real zu sein“ betitelt sind. Ich sehe Authentitzität verstärkt im Angebot, realness wird endlich kaufbar.
Tatsächlich hat „Authentizität“ in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt. Als könne ein Mensch jederzeit mit sich selbst identisch sein. Als ob schon irgendwas erreicht wäre, wenn jemand wie in der „Du darfst“-Werbung von sich behauptet: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“
Durch eine Konditionierung des Soforthabenkönnens vergessen wir wie das Verlieren beim Suchen so läuft, des inneren Sehens ohne erkennbaren Kostennutzen und wenden uns den Verlockungen neuer Verzweckungen, plötzlich ist „authentisch“ sein wichtig für die Karriere-Chamäleons, die Pofallas dieser Welt: echt Wirken ist wichtiger als Sein.
Tierisches Sinnbild dieser totalen, einzigartigen Realness ist das Einhorn. Tassen, Aufkleber, blinkende Hausschuhe, pinke Wurst und in Malle hat das Einhorn da vorn ein Horn. Es ist der kleinste, gemeinsame Nenner der einhornischen Authentizität, nur schade, dass sich fast keiner über den kulturgeschichtlichen Kern des Einhorns bewusst ist.
Das Fabeltier erscheint hier als Sinnbild der männlichen Fruchtbarkeit. Das Horn als Penis, der Regen als Ejakulation, das fruchtbare Land als Schwangerschaft. Ob sich die Marketingbüros, die sich die rosa Etiketten und die netten Sprüche ausdenken, dieser Konnotation bewusst sind?
via taz